Begegnung mit Herrn Hicho

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Es gibt ein japanisches Sprichwort, das lautet „wenn es irgendwo im Wasser lebt und essbar ist, dann kann man es auf dem »Tsukiji Shiijo« kaufen“. Der Tsukiji Shijo in Tokio ist der größte Fischmarkt der Welt, heißt es. Als mich der Taxifahrer morgens gegen 2:30 auf dem Gelände absetzt, glaube ich das sofort. Ich bin für eine Woche geschäftlich in Japan und nutze die freien Stunden, um Tokio ein wenig kulinarisch zu erkunden.

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Die Nacht ist kalt, Nebelschwaden wehen dicht über den nass glänzenden Asphalt. Die ersten Packer und Großhändler kommen zur Arbeit. Sie tragen Gummistiefel und kämpfen mit Zigaretten gegen die Müdigkeit. Gabelstapler und kleine Transportkarren knattern und surren in waghalsigem Tempo über die nassen Straßen, Kisten werden gepackt und verladen, es wird geschubst und gedrängelt. In drei Stunden beginnt die Thunfischauktion, und die Kühltransporter warten schon mit laufenden Motoren vor den Rolltoren der Lagerhallen. Wie ist dieser Markt organisiert? Nach Fischsorten oder nach Größe?  Nach Warengruppen? Schilder oder Pläne sucht man vergeblich – eine Orientierung zwischen den 1600 Ständen scheint unmöglich.

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Zum Glück treffe ich in diesem Moment einen Mann, dessen Pickup mitten in dem Gewusel kaputt gegangen ist und der nun laut fluchend (ungewöhnlich für einen Japaner) eine große Anzahl schwerer Tüten von seinem Auto auf seinen Stand schaffen muss. Hilfesuchend blickt er um sich und unsere Blicke treffen sich. Spontan biete ich an, ihm beim Tragen zu helfen. Zu meiner Verwunderung antwortet Herr Hicho in bestem Englisch (auch ungewöhnlich für einen Japaner) und nimmt mein Angebot misstrauisch aber gleichzeitig erfreut an. Wie sich herausstellt handelt es sich bei dem Herrn, dessen Laune sich nun schlagartig verbessert hat, um Herrn Hicho, einem Thunfischverarbeiter und Großhändler. Nachdem wir die Tüten auf seinen Stand geschafft – und zusammen einen Tee getrunken haben, berichte ich ihm, dass ich eine Fotoreportage für Slow Food machen will. Zu meinem Erstaunen hat er von Slow Food schon einmal gehört und er lädt mich spontan ein, ihn zu einer Fisch-Auktion zu begleiten.

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Nun muss man wissen, dass fotografierende Touristen auf dem Fischmarkt nicht besonders beliebt sind und gewöhnlich auch nicht zu Thunfisch-Auktionen zugelassen werden. Sie dürfen in einer kleinen Halle, dicht auf einem Gang zusammengepfercht, nur einen begrenzten Teil des Geschehens verfolgen und dies aus hygienischen Gründen auch nur bei tiefgefrorenem Thunfisch. Die Chance, einen zugelassenen Händler zu einer „echten“ Auktion von fangfrischer Ware begleiten zu dürfen, grenzt an  unverschämten Glück. Ich bin begeistert.

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Es ist kurz nach fünf, als wir eine riesige Halle betreten. Das Tor hinter uns schließt sich. Dicht auf Holzpaletten gedrängt, liegen hier hunderte von Blauflossenthunfischen und Schwertfischen wie riesige Torpedos auf dem Boden. Vorarbeiter rufen Kommandos, Händler begrüßen sich und inspizieren die Fische mit einer Taschenlampe und einem kleinen Schürhaken; damit heben Sie einen Teil der Bauchdecke an und prüfen Fettgehalt und Qualität. Wie und was sie da genau prüfen, kann ich nicht mehr herausfinden, denn der Auktionator schwingt eine Glocke und beginnt nun mit lauter Stimme und unverständlichem Singsang in die Halle zu rufen und die Gebote zu wiederholen. Er hüpft und springt jedes mal, wenn ein höheres Gebot gemacht wird, von seiner Holzkiste, auf der er steht, in die Luft und beginnt dann, sobald eine Reihe vekauft ist, mit der nächsten Tranche. Auch Herr Hicho hat einige Fische geprüft, seinen Mitarbeitern Anweisungen gegeben, ihnen seinen Höchstpreis genannt und wir verlassen, noch während die Auktion läuft, wieder die Halle. Schade, ich wäre noch gerne geblieben. „Wir müssen jetzt auf meinem Stand und alles rasch vorbereiten“ sagt er, „in 10 Minuten kommt der Fisch“. Bis dahin wird Herr Hicho rund 30.000 EUR ausgegeben haben – soviel kosten die besten Thunfische auf dem Weltmarkt.

Sein Stand ist eine Art Minifabrik und besteht im wesentlichen aus 5 großen Tiefkühltruhen und einigen langen Holztischen, welche von einigen Helfern nun mit frischem Wasser abgespült werden. Alles ist blitzsauber und appetitlich. Der Meister nimmt nun ein ca. 2 meter (!) langes Messer von der Wand und prüft die Klinge. Dann umwickelt er den Griff des Messers mit einer Art rutschfester Mullbinde, während seine Leute Wannen und Tücher bereit legen. Dann geht plötzlich alles sehr schnell: Der erste Thunfisch wird auf einem wackligen Karren angefahren, auf den Arbeitstisch gewuchtet und zerlegt. Jeder Handgriff sitzt, jeder weiß was er zu tun hat, kaum ein Wort wird gewechselt. In weniger als 20 Minuten ist der riesige Fisch vollständig zerlegt, pariert und wird in verkaufsgerechte Portionen abgepackt.

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Ein Teil wandert in die Tiefkühltruhen, der Großteil wird jedoch von anderen Händlern und Restaurantbesitzern, die jetzt schon ungeduldig anstehen und warten, abgeholt und weiterverkauft. Kleine, sorgsam geschnürte Päckchen mit bestem Thunfisch-Filet wechseln den Besitzer. Nach einer Viertelstunde ist der Zauber vorbei und es wird wieder ruhig am Stand. Das Gerippe des ersten Fisches liegt noch auf dem Tisch und Herr Hicho holt jetzt einen halbrunden Schaber aus seiner Tasche. Damit kratzt er das letzte Fleisch von den Knochen, lächelt mir aufmunternd zu und reicht es mir zum probieren (unnötig zu betonen, dass ich noch nie einen frischeren Thunfisch in meinem Leben genossen habe). Auch die Mitarbeiter und Helfer schaben und probieren. Es wird ein wenig gefachsimpelt, gelacht und grüner Tee herumgereicht. Dann kommt der Karren mit dem nächsten Thunfisch und die Arbeit beginnt erneut.

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Insgesamt vier Fische werden noch an diesem Morgen auf diese Weise zerlegt und verkauft werden, jeder im Wert eines Mittelklassewagens. Ich möchte natürlich noch mehr sehen und auch andere Händler und Ware fotografieren; immerhin gibt es hier rund 500 verschiedene Sorten Fisch und Meeresfrüchte im Angebot. Also verabschiede ich mich dankend von Herrn Hicho und seinen Männern und lasse mich vom Menschenstrom in die Gänge und Gassen mitreißen. Das Angebot ist in den Körben und Aquarien ist ebenso überwältigend wie fremdartig. Seeigel und Aale, Krebse, Muscheln, Kugelfische, Lachs, Barben, Seewolf und Heringe kann ich noch ausmachen – die meisten Fische habe ich aber noch nie zuvor gesehen. Wie mickrig und überschaubar erscheint mir in diesem Augenblick das Fischangebot in einem deutschen Supermarkt! Es gibt lebende Fische, gefrorene Fischblöcke, und mundgerecht geschnittene Filethappen. In den engen Gängen zischen den Marktständen stehen Palettenstapel mit Austern, schwappende Eimer mit Aalen oder Seeschlangen und Plastiksäcke mit Fischorganen.

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Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und es wird Zeit für ein japanisches Frühstück: Kein Fischmarktbesuch ohne abschließendes Sushi – so will es die Tradition. Rings um den Markt haben sich in den Seitenstraßen und Gassen kleine Kneipen angesiedelt, wo Arbeiter, Händler und Touristen eng aneinander gedrängt und übernächtigt darauf warten, vorgelassen zu werden. Die Gasträume sind selten größer als 15 Quadratmeter, innen ist die Luft stickig. Schulter an Schulter sitzen die Kunden am Tresen und lassen sich einer nach dem anderen vom freundlich lächelnden Sushi-Meister bedienen, der mit routinierten Handgriffen Meerestiere, Reis und Algen in kleinen Schüsseln arrangiert.

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Was dann kommt, entschädigt für alles – für das frühe Aufstehen, das Warten in unwirtlicher Atmosphäre bis zum Kantinencharme: Fischstreifen von Lachs, Thunfisch und Jakobsmuscheln in einer Qualität, wie wir sie in Europa niemals bekommen und die so zart sind, dass sie im Mund zergehen. Eine große Schüssel, mehr als ausreichend für eine Person, kostet 1.000 Yen, umgerechnet gerade mal 7,60 EUR. In London, Paris, Rom oder New York würde man dafür das Zehnfache oder noch mehr bezahlen. Das Gewusel auf dem Markt ebbt mittlerweile ab. Lastwagen und Lieferfahrzeuge verlassen das Marktgelände und die ersten Händler machen ihre Stände zu – zwei Stunden später, wenn die ersten Reinigungsfahrzeuge ihre Kurven ziehen, ist alles vorbei. Zeit, mehr von Tokio und natürlich noch die ein oder andere weitere Spezialität der kulinarischen Hauptstadt zu erkunden.

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