Keiner glaubt mehr an Mama Miracoli

10 Worte, die die Nahrungsmittelindustrie gekillt hat

Ausgestorbene oder bedrohte Wörter sind daran zu erkennen, dass sie heute hoffnungslos veraltet klingen oder sich sperrig im Mund anfühlen wie etwa „delikat“, „Gabelfrühstück“, „Ober“ oder „zechen“. Doch es gibt auch Worte in unserem täglichen Sprachgebrauch, die zu sinnentleerten Worthülsen  verkommen sind. Schuld daran sind die Marketingabteilungen der globalen Nahrungsmittelindustrie, die sich durch den inflationären Gebrauch einiger Schlagworte einen seriösen Anstrich geben wollen. Der Schuss geht nach hinten los. Auf die Glaubwürdigkeit von Werbung auf Verpackungen am Beispiel Wiesenhof angesprochen, räumte bei der letzten Hart aber Fair Sendung über Fast Food und Lebensmittel der Vorsitzende der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, Matthias Horst, ein: „Ich glaube nicht, dass noch irgendein Verbraucher wirklich glaubt, dass da ein Huhn auf dem Hof rumscharrt…“ Das war nicht nur hart und fair, sondern auch traurig und wahr.

Hier sind 10 Schlagworte, die die Industrie gekillt hat:
Natur, natürlich, Qualität, Nachhaltigkeit, hausgemacht, frisch, bio, grün, regional, Mama.


1. Natur

Angefangen hat alles in der 60er Jahren, einer Zeit als Werbung noch Reklame hieß. Die Marketingspezialisten erkannten, dass bei den Konsumenten, bedingt durch Industrialisierung und Urbanisierung, die Sehnsucht nach Natur immer weiter stieg. 50 Jahre danach gibt es kaum noch ein Lebensmittel, dass nicht mit seiner Natürlichkeit und Ursprünglichkeit wirbt. Mit naturfrisch, naturgut oder naturbelassen werden Produkte beworben, die mit der Realität kaum etwas zu tun haben. Ganz gleich ob Aufschnitt, Leberwurst, Geflügel oder Milchprodukte – auf keiner Verpackung fehlt das Klischee eines pittoresken Bauernhofs oder Landguts und einer grünen Wiese, vorzugsweise mit Alpenpanorama im Hintergrund.

Ist ja klar: Natur hat einen sehr positiven Beiklang – kein Konsument würde etwas kaufen, auf dem „künstlich“ drauf steht. Den Gipfel des Perversen erreichen neuerdings Artikel, bei denen es sich tatsächlich um Naturprodukte handelt, die nun aber für die Städter mit einem „added value“ sprachlich aufgepeppt werden: Naturjogurt, Naturquark, Natur-Reis, Natur-Fleisch oder natürliches Quellwasser. Womit wir zum zweiten Punkt kommen.

 

2. Natürlich
Selten hat sich ein Begriff mehr von seiner herkömmlichen Bedeutung gelöst als das Wort „natürlich“. Das Kennzeichnungsrecht gibt der Industrie und den Geschmacksfabriken jede Menge Starthilfe. Am Ende des Prozesses steht eine ganz neue Natur. Eine künstliche Natürlichkeit, in der es keinen Verfall gibt, kein Sterben und danach auch kein Leben.

Die Sägespäne, aus denen Erdbeeraroma gewonnen wird, entstammen australischen Bäumen – sind also unzweifelhaft natürlichen Ursprungs. Auch das Rizinusöl, aus denen die Chemiker Pfirsich-Maracuja-Aroma herauskitzeln, ist reine Natur, gepresst aus den Samen der Christpalme. Und auch der Pilz Trichoderma viride ist ein anerkanntes Mitglied der Natur, vor allem seit man seine Nebenbegabung entdeckt hat, dass er Kokosaroma produziert. Überhaupt sind Schimmelpilze und die Ausscheidungen von Bodenbazillen die perfekten und billigsten Produzenten, ganz gleich ob für Rinderbratenaroma, Hühnchenaroma, Kirscharoma oder Colageschmack. Was es nicht alles gibt.

Und weil all jene Aromen – ganz gleich, ob chemisch, biologisch oder gentechnisch gewonnen – nun mal aus Pilzen oder Mikroben gewonnen werden, dürfen die Resultate laut geltendem Gesetzt auch mit dem Etikett „natürlich“ geschmückt werden. Für den Verbraucher ist es eigentlich ganz einfach. Hände weg von allem im Supermarkt, auf dem das Etikett „ohne künstliche Zusatzstoffe“ oder „mit natürlichen Zutaten und Aromen“ steht. Es ist stets ein Ausflug in die künstliche Welt der Natürlichkeit. Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem seien die Bücher „Die Suppe lügt“ oder „Echt künstlich“ von Hans-Ulrich Grimm empfohlen.

 

3. Qualität 
Ein unendlich dehnbarer Begriff, der alles und nichts bedeutet und leider in völlige Belanglosigkeit abgerutscht ist. Qualität steht auf den Verpackungen der Massentierhalter, auf den Nudel- Spätzle- oder Knödelpackungen, Qualität ist bei McDonalds “die Basis unseres Angebots“, bei Burger King die Grundlage, denn 100% Frische steht für 100% Qualität, bei KFC der Grund für ein einmaliges Geschmackserlebnis und den Leuten von Pizza Hut liegt die Qualität ihrer Pizzen am Herzen. Wie schön. Natürlich bietet Aldi „Deutsches Qualitäts-Schweinefleisch“ und selbst Lidl wird bei dem Thema richtig emotional und schreibt auf seiner Homepage, dass dem Unternehmen Qualität, Sicherheit und Zufriedenheit am Herzen liegt. Und weiter: „Unsere Qualitätskontrolle lebt deshalb nur für eine Leidenschaft: Perfektion.“

Übrigens: Die Steigerung von Qualität nennt sich Premiumqualität. Das ist die Stunde der Marketingpoesie für „kaufkräftige Zielgruppensegmente“. Wir erfahren viel über bedingungslose und allerhöchste Qualitätsansprüche, Premium-Produkte, Frische der Extraklasse, grenzenlosen Genuss, erlesene Zutaten, exklusive Selektion, usw., ganz gleich, ob es sich um Tiernahrung, Eis, Konfitüre oder Seniorenkost handelt. Mein Plädoyer für den intelligenten Einkauf: Lasst das Zeug in den Regalen, wenn Qualität draufsteht und kauft beim Bauern auf dem Markt.

 

4. Nachhaltigkeit
Viele nehmen es in den Mund, viele schreiben darüber. Politiker, Banker, Konzernlenker, alle bemühen sich redlich und beredt zugleich, die Nachhaltigkeit ihres Tuns ins Blickfeld des allgemeinen Interesses zu rücken. Und kein Food-Konzern, der nicht mindestens eine Seite über Nachhaltigkeit ins Netz stellt und stolz darauf hinweist, welch großen Stellenwert bei ihm die ökologischen Aspekte und die Verantwortung gegenüber der Umwelt haben. Mit nur einem Effekt: Das ursprünglich so wichtige Leitbild für die Zukunft verkommt zu einem Schlüsselbegriff ohne Wahrhaftigkeit.

 

5. Hausgemacht
Wenn Sie das nächste Mal im Restaurant hausgemachte Spätzle auf der Speisekarte entdecken, fragen Sie doch einmal nach, ob der Wirt denn nun hausgemacht oder selbstgemacht meint. Der irritierte Blick der Bedienung ist Ihnen gewiss! Sie nennen es hausgemacht, handgemacht, handwerklich hergestellt, mit Liebe, traditionell oder artesanal und sie suggerieren damit immer nur eines: „Leute, bei uns stimmt die Qualität“. Das nennt man dann  „Kino im Kopf“, denn der Konsument oder Gast denkt sogleich an gemütliche Landhausküchen, brodelnde Suppentöpfe, bodenständige Köche, unermüdliche Bäcker oder talentierte Patissiers. Doch hinter dem Vorhang, backstage sozusagen, sieht es völlig anders aus. „Hausgemacht“ kann per Gesetz nicht eindeutig definiert werden und es stimmt ja schon: In irgend einem Haus wird es ja gemacht, das Hausgemachte.  Von der Suppe über das Salatdressing , über den Hauptgang mit Fleisch und Gemüse bis hin zu Fingerfood, Backwaren und Dessert – Firmen wie Nestlé Professional, Unilever Food Solutions,  Kraft Foods, Salomon oder Schöller Direct liefern dem Wirt komplette Menüs, Feinkost, Snacks oder eben jene Spätzle servierfertig ins Haus. Das nennt man Convenience Food. Selbst die billigste Küchenhilfskraft mit Migrationshintergrund kann auf diese Weise per Knopfdruck auf den vorprogrammierten Heißluftdämpfer einen wohlschmeckenden Gulasch mit „hausgemachten“ Spätzle, knusprigen Rösti oder einen herzhaften Eintopf hinbekommen. Guten Appetit!

 

6. Frisch 
Noch so ein Trick, auf den wir täglich hereinfallen. Heutzutage muss alles, was wir essen und trinken, “frisch” sein. Entsprechend ist so ziemlich alles, was wir in den Supermarktregalen finden, mit eben diesem Prädikat ausgestattet: Das Angebot reicht von der “Frischmilch” über “frisches Gemüse”, “frische Eier“ „Frischobst” und “frisches Fleisch” bis hin zum industriell verpackten “Frischkäse”.

Bitteschön, was heißt denn schon frisch? Der Tiefkühlrohling aus der Fabrik, der sich im Backshop vor unseren Augen in ein duftendes Croissant oder in eine leckere Brezel verwandelt und somit ofenfrisch ist? Die naturfrische Milch aus dem Tetrapack, die womöglich aus Polen oder Tschechien stammt? Die panierten Hühnchenteile aus der Friteuse? Das rosa Frischfleisch unter Schutzatmosphäre? Die backfrische Pizza vom Fließband? Die gartenfrischen Bioäpfel aus Chile oder Neuseeland? Danke, aber nein danke.

 

7. Bio
Die Zeiten, wo Bio nur von körnerfressenden Ökos im Naturkostladen gekauft wurde, sind schon lange vorbei. „Bio fürs Volk“ ist breit verfügbar, erschwinglich und darf auch ohne Gesinnungsbekenntnis erstanden werden. Laut Greenpeace verkauft Aldi mittlerweile jede zweite Bio-Möhre und fünfmal soviel Bio-Kartoffeln wie der gesamte Naturkosthandel zusammen. Bio-Siegel sollen garantieren, dass alles strengstens kontrolliert wird. Und viele Menschen glauben, dass Bio-Gemüse unbehandelt ist, dass Bio vom Bauernhof kommt oder dass Bio keine Zusatzstoffe beinhaltet. Fakt ist: Bio vom Discounter ist sehr beliebt und selbst Ökotest bescheinigt den meisten Säften, Tiefkühlgemüse und Sojaprodukten gute Testergebnisse. Aber: Bio ist auch ein Riesengeschäft, denn es bedient die Sehnsucht der Verbraucher nach Ursprünglichkeit. Spätestens seit die Discounter Biogeflügel in ihrem Sortiment haben, sollte uns dämmern, dass da irgend etwas nicht zusammenpasst.

Stiftung Warentest gab dem Wiesenhof Produkt nur die Note 3,7 und schrieb: „Am Verbrauchsdatum nicht mehr frische Biofilets. Erhöhter Keimgehalt, viele Pseudomonaden. Campylobacter in einer Packung. Relativ teuer.“

Es ist kein Geheimnis, dass Discounter die Preise drücken, wo es nur geht. Jeder will der Billigste sein. In den jährlichen Gesprächen mit dem Handel wird den Erzeugern der Preis diktiert. Verhandlungsspielraum gibt es meist keinen. Biomühlen wird gedroht, man würde den Weizen eben in der Ukraine kaufen, wenn sie beim Preis nicht nachgeben. Und Biomilchbauern erhalten – wie auch konventionell arbeitende Bauern – zu wenig Geld für ihre Milch. Die Massenproduktion, egal ob 
von Eiern, Gemüse oder Fleisch, hat ihren Preis: Wo sich Tausende von Tieren in einem Gehege drängeln, wie beispielsweise bei der Eierproduktion, sind Krankheiten programmiert. Die Exkremente müssen entsorgt werden, sie belasten die Umwelt. Und auch im Bioanbau sind Düngemittel erlaubt, wenn auch keine Mineraldünger. Doch wo nur noch Masse gilt, wird auch im Ökolandbau das maximal nach EU-Biovorschrift Erlaubte aus dem Boden herausgeholt. Renée Herrnkind von Demeter sieht Discounter-Bio daher kritisch: „Es wird so kommen wie in der konventionellen Landwirtschaft“, vermutet sie, „die Umwelt wird ausgebeutet.“ Sie beobachtet einen problematischen Trend: „Unternehmer steigen in die Bio-Landwirtschaft ein, machen ein paar Jahre auf öko, nutzen die Natur aus – und schwenken dann wieder auf konventionelle Landwirtschaft um.“ Googeln Sie mal Biolüge oder Bio Bluff

 

8. Grün
Kommt gleich nach Bio und war mal genauso gut gemeint. Spätestens seit Monsanto grüne Gentechnik vorantreibt und McDonalds sein Logo grün angemalt hat, hat die Farbe ihren Sexappeal verloren. Ende der Märchenstunde.

 

9. Regional 
Gutes Konzept. Gute Produkte mit geringem CO2 Fußabdruck. Kurze Transportwege. Frisch. Gesund. Die regionale Wirtschaft stärken…  schon klar. Auch Supermärkte werben immer häufiger mit Regionalität und „Produkten von hier“. Man verliert halt ungern Kunden an die kleinen Bauernläden, Einzelhändler und Feinkostgeschäfte. Aber es ist Vorsicht geboten. Nicht immer ist dort, wo regional draufsteht, auch regional drin. Klicken Sie auf den folgenden Link und sehen Sie sich die Reportage an:


 

10. Mama 
oder Mutters Küche bzw. „wie bei Muttern“. Das Klischee ist einfach nicht tot zu kriegen: Glückliche Mütter (selten Großmütter), stets perfekt gestylt und dezent geschminkt, schnippeln Kräuter und kochen leckere Saucen, gerne im mediterranen Umfeld oder für die italienischen Momente im Leben.

Spielende Kinder toben durch die blitzblanke Küche und dürfen probieren, Lebenspartner naschen und lächeln anerkennend, beste Freundinnen empfehlen sich gegenseitig Spülmittel oder rechtsdrehende Joghurts, Singles flirten, dass sich die Balken biegen… Das Thema hat seit Jahrzehnten viele Variationen: Frau Sommer, die Milchschnittenverteilerinnen, die Hanuta-Bäckerin, der  charmante Herr Angelo, der „gar keine Auto hat“, und natürlich Mama Miracoli. Auch der freundliche und stets makellose Senior-Patissier bei Lindt gehört in diese Kategorie. All diese Werbe-Ikonen suggerieren uns Stil, Savoir Vivre, handwerkliche Küchenkunst und liebevolle Produktionsverfahren in kleinen Manufakturen. Die Wirklichkeit ist davon sehr weit entfernt.

Wie sagte es Herr Horst so schön: „Ich glaube nicht, dass das noch irgend ein Verbraucher glaubt…“  Eben!

 

© Alle in diesem Blog genannten Firmen und Produktnamen sowie Wort- oder Bildmarken, unabhängig von der Größe der Darstellung und davon, ob sie ein Markensymbol enthalten, sind geschütztes Eigentum ihrer jeweiligen Unternehmen und werden hiermit anerkannt. Bitte beachten Sie den Disclaimer

1 Kommentar
  1. Für die Lebensmittelindustie ist es nicht wichtig wie sondern dass es Hauptsache geschieht, ihr Wille!
    Dazu bedarf es auch lediglich leider jedes noch wenig wahre(!)zu immer in Werbeblöcken zu wiederholen bis man diese sich einprägt.
    Eines davon ist der Werbeslogan von der amerikanischen Faat-Foof-Kette „KFC: Vor Ort frisch paniert!!!“
    Die Hänchen-Stücke werden bereits paniert und gewürzt ob für Hot and Spicy(scharf)oder z.B. Kids-Menü in bestimmter AnzahlFleischstücke in bunten Netzen getan um diese so von einander bei der Bestellung getrennt zu halten und frietieren.
    Also weder frisch paniert noch gewürzt, denn dazu ist nicht genug Zeit und Platz.
    Alles aus eigener Erfahrung, während Studienzeit und Nebenjobs.

Hinterlassen Sie eine Antwort

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht!

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>